„Mein Abenteuer Mexiko“
Zweiter Zwischenbericht von Amelie Körtje
Vor genau acht Monaten kam ich voller Aufregung am Flughafen in Mexiko Stadt an. Was würde mich wohl erwarten, in diesem unbekannten Land, in dem ich ein Jahr verbringen würde? Heute, acht Monate später, kann ich sagen, dass die Zeit anders verlaufen ist, als ich es erwartet hätte. Ich versuchte, mit möglichst wenigen Erwartungen zu kommen und sie wurden haushoch übertroffen. In acht Monaten habe ich gefühlt so viel erlebt, gestaunt, gefühlt und über das Leben gelernt wie vielleicht in den 19 Jahren zuvor nicht. Mit Überzeugung kann ich behaupten, dass es die bisher beste Entscheidung meines Lebens war, ein Jahr als Freiwillige mit dem Roten Kreuz in Puebla zu verbringen.
Seit meinem letzten Bericht im November hat sich viel verändert. Da meine erste Gastfamilie ein Baby bekam, machte ich mich mit dem Koordinator des Roten Kreuzes auf die Suche nach einer neuen Gastfamilie. Den Wechsel erlebte ich mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Einerseits hing ich sehr an Paula und Alejandro, meinen ersten Gasteltern, sie haben es mir ermöglicht, das unfassbar komplexe politische, ökonomische und soziale Geflecht Mexikos zumindest ansatzweise zu begreifen.
Doch sah ich die Situation auch als Chance, noch eine andere Seite Mexikos kennenzulernen, andere Sichtweisen, einen anderen Lebensstil, andere Gebräuche. Seit Januar wohne ich nun bei Vicky, meiner neuen Gastmutter und der Haushälterin Tona, nur fünf Gehminuten vom Cruz Roja entfernt. Vicky ist Lehrerin an einer Montessorischule, jeden Sonntag kommen ihre beiden erwachsenen Kinder zum Mittagessen und Spieleabend zu Besuch. Leider sehen wir uns aufgrund der unterschiedlichen Arbeitszeiten und meiner regelmäßigen Wochenendausflüge nicht so oft, dennoch fühle ich mich sehr wohl in meinem neuen Zuhause.
Auch von meiner Einsatzstelle im Cruz Roja gibt es Neuigkeiten. Bis Februar arbeitete ich im Rettungsdienst, doch leider gab es zum Ende hin immer weniger Einsätze, da es Probleme mit der Notrufzentrale gab und dem Cruz Roja weniger Einsätze zugeteilt wurden. So gab es leider immer wieder Zeiten, in denen doch Langeweile aufkam. Ich versuchte jedoch, diese Stunden sinnvoll, z.B. durch Lesen zu überbrücken.
Ausgeglichen wurde dies durch Tage, an denen ich wirklich das intensive Gefühl hatte, etwas zu lernen, nicht nur in medizinischer Richtung, sondern auch mental und emotional über mich selber. Zu sehen, wie sich das Leben eines Patient qualvoll dem Ende zuneigt, aufgrund eines Sauerstoffmangels, der auf mögliche Fehleinschätzungen der Rettungskräfte zurückzuführen ist, war schwer und emotional belastend. Hätte ich mehr auf mein mulmiges Bauchgefühl hören sollen und mehr auf meine Meinung bestehen sollen? Bin ich somit Schuld am Tod eines Menschen? Es sind Fragen, die sich wohl jeder Mediziner früher oder später stellen muss und ich bin froh, diese Erfahrung jetzt schon machen zu können und daraus zu lernen.
Im Rettungsdienst lernte ich unter anderem praktisch, ein EKG, etwa bei einem Infarktpatienten zu lesen, Infusionen zu legen, zu reanimieren (wenn auch jedes Mal erfolglos) sowie grundlegende Dinge wie die Vitalwerte zu messen und Verbände zu legen. All diese Lernfortschritte lassen mich über die vielen Stunden des tatenlosen Rumsitzens und Wartens hinwegsehen. Dennoch freute ich mich, als wir im Februar in die Notaufnahme und die Consulta, einer Art gemeinärztlichen Sprechstunde wechselten, jeweils eine Woche im Wechsel in einem der beiden Bereiche. Wir arbeiten Montag bis Freitag, nachmittags von 14 bis 19 oder 20 Uhr. Der zuständige Arzt in der Consulta erklärt viel und anschaulich, so dass ich oft wirklich das Gefühl habe, etwas zu lernen, auch wenn ich meistens nur bei der Untersuchung zuschaue. Einfache Dinge wie Fäden ziehen oder Vitalwerte messen darf ich jedoch übernehmen.
In der Notaufnahme schätze ich besonders die Anwesenheit der Medizinstudenten im Praktischen Jahr, denn mehr als der Arzt selber lassen sie mich kleine Aufgaben erledigen und erklären mir die Sachverhalte. So darf ich unter anderem hin und wieder kleine Wunden säubern und, was mich besonders begeistert, nähen, EKGs legen, und den Dopplerultraschalluntersuchung bei Schwangeren durchführen. Insgesamt besteht der Einsatz in der Notaufnehme jedoch auch vorrangig aus Zuschauen. Zweimal durfte ich, nach mehrmaliger Nachfrage meinerseits, bei Operationen zuschauen und auch dort sogar nähen.
Mein absolutes Highlight bisher bei der Arbeit im Cruz Roja erlebte ich vor einigen Tagen, als ich zum ersten Mal bei der Geburt eines Babys zusehen durfte. Wie so häufig hier in Mexiko, handelte es sich um einen Kaiserschnitt. Der Moment, als der kleine Kopf endlich zum Vorschein kam, war ein ganz besonderer. Als der Mutter langsam eine Träne über das Gesicht voller purer, bedingungsloser Liebe rollte, ging mir das Herz auf und auch ich spürte vor Ergriffenheit eine kleine Träne im Augenwinkel.
Es sind diese kleinen und großen Momente, die mich immer wieder bestärken in dem Wunsch, Medizin zu studieren.
Tatsächlich ist die Arbeit im Cruz Roja für mich der größte Anreiz, nach Deutschland zurückzukehren. Nicht weil es mir nicht gefällt, sondern weil ich in der direkten Arbeit mit den Patienten und Ärzten merke, wie viel Lust ich habe, mehr zu lernen über die Medizin, im Detail zu verstehen, wie der menschliche Körper aufgebaut ist und funktioniert, welche Krankheiten und Therapiemöglichkeiten es gibt. Oft wünsche ich mir, schon mehr in Form des Studiums gelernt zu haben und so aktiver mitarbeiten zu können.
Ansonsten nutze ich meine freie Zeit hier in Mexiko ausgiebig, um dieses wunderschöne vielfältige Land kennenzulernen. Über Ostern reiste ich in den südlichen Bundesstaat Chiapas, der fast zu 80% aus indigener Bevölkerung besteht. So lernte ich nochmal eine ganz andere, ursprünglichere Seite Mexikos kennen. In Hütten im Dschungel zu dem Brüllen der Affen und Zwitschern der Vögel aufzuwachen, in glasklaren Bächen und Wasserfällen zu schwimmen, durch das bunte San Cristobal de las Casas voller Kultur und Leben zu schlendern, auf dieser Reise verliebte ich mich nochmal mehr in Mexiko und seine Vielfalt.
Und doch machte sie mir erneut die sozialen Unterschiede Mexikos schmerzhaft bewusst. An einen Tag die um Geld für eine Tortilla bettelnden Kinder in Chiapas zu sehen und am nächsten durch die luxuriösen, schillernden Straßen des Reichenviertels Polanco in Mexiko Stadt zu fahren, hinterließ in mir ein seltsames Gefühl der Frustration angesichts dieser Ungleichheit.
Ich lernte in den vergangenen Monaten die traumhaften Strände des Bundesstaates Oaxaca, das bunte San Miguel de Allende, ein Sammelpunkt US-amerikanischer Senioren, sowie das beeindruckende Guanajuato mit seinem unterirdischen Tunnelstraßensystem und den gemütlichen kleinen Gässchen kennen. In Mexiko werden einige Dörfer, die eine besondere Architektur, Kultur oder Geschichte bieten, mit dem Titel „Pueblos magicos“, magische Dörfer, geehrt. In Tepoztlan die spirituelle Erfahrung eines mexikanischen Temazcals zu erleben, in Cholula von der, auf einer Pyramide erbauten, Kirche aus die Sonne hinter den beiden Vulkanen Popocatepetl und Itzaccihuatl untergehen zu sehen, Mexiko verzaubert mich immer wieder aufs neue mit seiner Schönheit. Die Pyramiden von Teotihuacan raubten mir den Atem, ebenso wie die Aussicht von dem Vulkan Nevado de Toluca, mit der wir nach einem anstrengenden Aufstieg belohnt wurden.
Gerade weil das Land Mexiko, seine Leute, Natur und Traditionen mich mit einer solchen Begeisterung erfüllen, setze ich mich in letzter Zeit verstärkt mit meiner eigenen Herkunft, meiner Einstellung zu Deutschland, auseinander. Viele Mexikaner, die ich kennengelernt habe, erkennen die Probleme an, vor denen Mexiko steht, etwa was die politische Lage, Stichwort Korruption, oder die soziale Ungerechtigkeit angeht. Und dennoch erklären mir viele, sie seien stolz, Mexikaner zu sein, sie liebten ihr Land. Dies spiegelt sich auch an den vielen nationalen Feiertagen, wie dem Unabhängigkeitstag im September wieder, an dem mit Stolz die mexikanische Flagge gehisst wird und der Schrei der Unabhängigkeit aus Abermillionen Kehlen erklingt. In den Schulen wird regelmäßig die Nationalhymne gesungen, die Hand stolz auf der Brust.
Für mich war dies anfangs ein äußerst befremdlicher Anblick. Allerhöchstens zur Fußballweltmeisterschaft alle vier Jahre singe ich die Nationalhymne, nie würde ich auf die Idee kommen, eine deutsche Flagge zu hissen. Wenn ich meinen mexikanischen Freunden erkläre, dass ich keinen Stolz empfinde, Deutsche zu sein, stoße ich oftmals auf verständnislose und entgeisterte Gesichter. Dies habe mit dem tiefen Einschnitt in die deutsche Identität als Folge des zweiten Weltkriegs zu tun, versuche ich zögerlich zu erklären, wohl wissend, dass ich dabei eigentlich doch nur von mir selber sprechen kann. Instinktiv schrillen in meinem Kopf bei den Worten Patriotismus, Nationalstolz, die Alarmglocken, sofort verbinde ich sie mit Rassismus, Ausgrenzung, dem Schrecken der deutschen Geschichte.
Hier in Mexiko zeichnet sich mir ein ganz anderes Bild: Die Mexikaner sind nicht deshalb stolz auf ihre Nationalität, weil sie sich ihretwegen anderen Menschen überlegen fühlen. Ganz im Gegenteil, viele lieben die natürliche und menschliche Vielfalt, das mexikanische Essen und die vielen Traditionen des Landes – und gleichzeitig herrscht ein ausgesprochen großes Interesse an anderen Kulturen. Besonders als Deutsche wurde mir bisher immer sehr große Anerkennung entgegengebracht. Die Deutschen seien ja so intelligent, so strebsam, und erst die Autos…
Ich bin in solchen Situationen immer etwas ratlos, was ich darauf erwidern soll. Dass es in Deutschland auch Probleme gibt, Menschen in Armut leben und nicht alles perfekt ist? Es ist eine andere Art von Problemen, mit denen Deutschland und Mexiko zu kämpfen haben und eine Relativierung von Problemen halte ich generell nicht für sinnvoll. Und dennoch ist mir hier in Mexiko bewusst geworden, dass etwa die vielen Sozialleistungen, die wir in Deutschland haben, eine funktionierende Demokratie ohne korrupte Politiker, und ein Gefühl der Sicherheit auch zu später Stunde, Dinge sind, die in kleinster Weise als selbstverständlich anzusehen sind.
Bedeutet dies, dass ich nun als stolze Deutsche aus Mexiko zurückkehre? Nein. Doch ich bin mir meiner Privilegien, die mir bei meiner Geburt durch Zufall geschenkt wurden, einmal mehr bewusst geworden. Und dass mit diesen Privilegien auch Verantwortung einhergeht.
In den letzten Wochen ist mir immer mehr bewusst geworden, wie schwer mir der Gedanke an die Rückkehr nach Deutschland fällt. Mein Leben hier in Mexiko fühlt sich an wie ein Traum, aus dem ich nicht aufwachen möchte, auch wenn ich weiß, dass ich es früher oder später muss. Manchmal fühlt es sich so an, als würde eine große Uhr unaufhörlich neben meinem Kopf ticken. Tick. Tack. Tick. Tack. Die Zeit rennt und rennt und rennt. Aus der Gelassenheit, dem Im-Moment-Leben der ersten Monate ist das Bewusstsein geworden, dass ein Jahr eben nur ein Jahr und somit endlich ist.
Vor meiner Ausreise aus Deutschland war es vor allem das Projekt im Cruz Roja Mexicana, welches mich reizte, ein Auslandsjahr zu machen. Doch auch wenn mir die Arbeit tatsächlich größtenteils sehr gut gefällt, sind es jetzt vor allem die Menschen, der Lebensstil, die Entspanntheit, wegen derer mich beim Gedanken an den 13. August, an den Abschied, ein dumpfes Gefühl der Panik erfüllt. Im Moment kann ich mir einfach nicht vorstellen, in weniger als vier Monaten in mein Leben in Deutschland zurückzukehren. Zu wohl fühle ich mich in meinem mexikanischen Leben, umgeben von einigen der tollsten Menschen, die ich jemals kennenlernen durfte. Ich weiß, dass es sinnlos ist, sich diese Gedanken jetzt schon zu machen, doch die Tatsache, dass man die verbleibenden Monate an einer Hand abzählen kann und die Zeit wie im Flug vergeht, beunruhigt mich zutiefst.
Bei dem Zwischenseminar mit den anderen Rot-Kreuz-Freiwilligen im März wurden wir gebeten, eine Legende über unsere Zeit in Mexiko zu schreiben und uns so schon einmal gedanklich mit der Rückkehr nach Deutschland auseinanderzusetzen. Im Folgenden meine Legende mit dem Titel „Die beste Entscheidung“
„Es war einmal ein junges Mädchen, das wusste nicht, wo ihr Platz in der Welt war. Trotz Freunden und Familie zu Hause merkte sie, dass ihr etwas fehlte im Leben. Und so machte sie sich auf in die große weite Welt nach Mexiko.
Mexiko war ein Land voller Unbekannte, sie beherrschte kaum die Sprache, Kultur und Essen waren ihr fremd. Vor ihrem großen Abenteuer hatte sie schon einiges über Mexiko gehört. Kriminalität, Drogenhandel, Gefahr, Gefahr, Gefahr, kreischten ihr die Stimmen der Mitmenschen von allen Seiten wie Alarmsirenen entgegen. Doch sie entschloss, sich die Ohren zuzuhalten und das Kreischen zu ignorieren. Sie machte sich auf den Weg nach Mexiko mit vollen Koffern und einem Kopf möglichst leer von Vorurteilen.
Sie kam mit wenigen Erwartungen und war überwältigt von dem Land, das sie mit offenen Armen empfing. Sie traf Menschen, wie sie sie noch nie getroffen hatte, so anders und doch im Kern so gleich, so interessant und interessiert. Sie führte Gespräche über Themen, die sie in ihrer Heimat nie beschäftigt hatten, weil es Selbstverständlichkeiten oder Unvorstellbarkeiten waren.
Sie lernte und lernte und lernte. Über Mexiko, über ihre Heimat, über ihre Mitmenschen, vor allem aber über sich selber. Einige ihrer Pläne, Vorstellungen und Wünsche bestätigten sich. Andere änderten sich, grundlegend. Sie setzte sich neue Prioritäten, vergaß andere.
Im Laufe der Zeit merkte sie, wie sehr sie diese Auszeit von ihrer Heimat gebraucht hatte. Eine Auszeit von ihrem Alltag, von den ihr bekannten Normen und Werten. Um sich selber neu kennenzulernen. Und um Erfahrungen zu sammeln, die einzigartig und unvergesslich waren. Sie merkte, dass es gut gewesen war, sich die Ohren vor den kreischenden Alarmsirenen, die sie vor ihrer Entscheidung gewarnt hatten, zuzuhalten.
Denn was sie in Mexiko empfing, war kein hässliches Kreischen der Gefahr, sondern Musik in ihren Ohren. Eine anziehende Musik, die über das Hören hinausging und alle ihre Sinne stimulierte. Das Essen verzauberte ihren Gaumen, das Klima liebkoste ihre Haut. Sie fühlte. Sie fühlte sich lebendig. Sie merkte, wie viel das Leben wert ist. Und ohne es zu merken, wurde sie süchtig nach dem Mexiko, das ihr Leben geworden war.
Sie erlebte ein Jahr voller Höhen und Tiefen. Doch die Höhen waren höher, als sie sie jemals erklommen hatte. Vulkanhoch. Und als sie nach Ablauf der 12 Monate in ihre Heimat zurückkehrte, war sie sich nicht sicher, ob es noch ihre Heimat war. Zumindest nicht ihre einzige. Denn ihr Herz gehörte jetzt auch Mexiko.“
Amelie Körtje
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